Aktuell: Gedanken eines Schiedsrichters


09.15 Uhr. Offizielle Anstoßzeit. Ich stehe auf einem Grandplatz irgendwo in Hamburg. Und so wie ich werden heute weitere 600 Schiedsrichter im Bereich des Hamburger Fußballverbandes unterwegs sein. In allen Ligen bis hoch zur Oberliga.
Ich habe zwei Mannschaften der Kreisklasse vor mir. Und 45 Minuten Anfahrt hinter mir. Nix mit Ausschlafen…wie so häufig im Dienste des Balles.…seit 25 Jahren schon. Nicht nur in Hamburg, auch in Niedersachsen und in Nordrhein-Westfalen habe ich gepfiffen. Regionale Unterschiede inbegriffen, doch auf dem Platz ist „…auf dem Platz“…

Kreisklasse bedeutet für mich: Von den zwei mal 45 Minuten schaffen die Spieler konditionell rund 1 Stunde, und danach hängt es davon ab, welche Laune sie haben: Ist sie gut – oder führt die eigene Mannschaft - werden sie sich verbal zurückhalten.

Ist sie schlecht – oder wird sie es aufgrund von eigenen Fehlern oder denen der Mannschaft – ist ab da vermehrt mit Unruhe zu rechnen. Speziell mit Kritik an mir, denn ich werde als Schiedsrichter schnell verantwortlich gemacht. Da wird zuerst nur leise vernehmlich-, dann immer lauter protestiert und wenn ich das geflissentlich ignoriere, wird irgendwann laut gemeckert und wenn das auch nicht hilft, kommen die persönlichen Beleidigungen.

Bei Mitbürgern mit Migrationshintergrund kommt dann noch hinzu, dass ich eben keinen habe. Und ganz perfide wird es, wenn mir vorgeworfen wird, ich würde so pfeifen, weil ich etwas gegen Ausländer hätte. Das bringt mich regelmäßig selbst auf die Palme, denn eine Hälfte von mir kommt aus dem Ausland. Das sieht man mir aber nicht an.

Mein Trikot hat eine andere Farbe als die der Spieler und sollte meine Rolle schon optisch untermalen…ich bin mit absoluter Sicherheit der einzige Akteur auf dem Platz, der definitiv neutral ist. Alle anderen haben eine Vereinsbrille auf, was ja auch verständlich ist.

Jedoch ist es egal, wie ich entscheide…es gibt immer irgendjemanden, der damit nicht einverstanden sein wird…das gehört nun mal zum Spiel. Allzu häufig jedoch bin ich nicht nur Spielleiter: Ich muss als Psychologe, Sanitäter und wahlweise Polizist, Staatsanwalt und Richter herhalten: Ich hole Spieler wieder auf den Boden zurück, bringe Kontrahenten wieder zusammen, baue auf und tadele. Für meine Entscheidungen habe ich meist weniger als eine halbe Sekunde Zeit, dann muss der Pfiff kommen – oder eben nicht. Brauche ich länger, wird meine Entscheidung automatisch bezweifelt. Von der Beweisaufnahme (Beobachtung des Fouls/der Regelwidrigkeit) bis hin zum Urteil vergehen selten mehr als 5 Sekunden. Eine Revision gegen meinen Urteilsspruch gibt es nicht – zumindest nicht während des laufenden Spieles.

90 Minuten
22 Spieler
17 Regeln
1 Schiedsrichter

Ich pfeife das Spiel an. Der Anstoß wird schon regelwidrig (nicht nach vorne) ausgeführt. Soll ich jetzt schon abpfeifen…und korrigierend eingreifen..? Die Spieler spielen zumeist seit mindestens 10 Jahren oder mehr, wieso können die das immer noch nicht..? - Ich entscheide mich, es laufen zu lassen…und mich auf die wesentlichen Dinge zu konzentrieren: Ein falscher Anstoß wird nicht spielentscheidend sein. Außerdem wissen es die anderen Spieler auch nicht besser:

Niemand protestiert.

Nach 10 Minuten ahnde ich die erste Abseitsstellung und pfeife. Der Spieler ist enttäuscht, dreht sich zu mir um und hebt die Arme….das Protestieren gehört dazu. Ich ignoriere das und lasse mit einem indirekten Freistoß weiterspielen. Doch schon jetzt ist mir klar, dass der Spieler offen anfangen wird zu protestieren, wenn ich ihn wieder abpfeifen sollte…was eigentlich ein stückweit verständlich ist…ich verbaue ihm eine relativ gute Chance auf ein Tor..aber so sind nun mal die Regeln…

Kreisklasse finde ich immer schwierig zu pfeifen, denn ich bin alleine auf dem Platz. Ein schneller Pass über 35 Meter ins Mittelfeld, von dort aus ein weiterer auf den Stürmer…innerhalb von 2 Sekunden kann ich schon 50 Meter vom Spielgeschehen entfernt sein….trotzdem muss ich alleine entscheiden, ob der Stürmer nun bei der Abgabe im Abseits war, oder nicht. Pfeife ich, wird der Stürmer meutern. Pfeife ich nicht, wird das der Abwehrspieler tun. Pfeife ich gegen den Heimverein, werden die Zuschauer ebenfalls einstimmen.

Egal, was ich entscheide, ich werde immer jemanden gegen meine Entscheidung haben.

Vielleicht irre ich mich, aber mir will scheinen, dass die Regelkenntnis der Spieler immer weiter abnimmt. Wie kann es denn zum Beispiel sein, dass ich immer häufiger Einwürfe abpfeifen muss, weil diese nicht regelgemäß ausgeführt worden sind…dabei sind meine Ansprüche gar nicht hoch: Der Ball soll bitteschön gradlinig über den Kopf geworfen werden, ein Teil von beiden Füßen auf dem Boden. Aber die Kreativität der Spieler scheint grenzenlos…ich habe schon erlebt, wie ein Spieler nur mit einer Hand eingeworfen hat, ein anderer wollte den Ball einrollen….

Meine Partnerin hat mich mal gefragt, warum ich mir das immer wieder – faktisch jedes Wochenende – antue: Die Spieler wüssten das doch sowieso nicht zu würdigen und ob ich mir nicht zu schade sei, mich immer beschimpfen und beleidigen-, in Ausnahmefällen sogar bedrohen zu lassen.

In solchen Momenten stelle ich mir dann vor, wie es wäre, wenn ein Verteidiger einen Angreifer im Strafraum zu Fall brächte und dann auf diesen zuginge und sagt: „Ey Mann sorry, das war jetzt echt mies von mir, für diese Nummer bekommt Ihr einen Strafstoß…!“

Und dann wird mir klar, dass wir noch eine Weile gebraucht werden dürften.


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