Aktuell: Leserbrief eines Hamburger Schiedsrichters


Leserbrief

Sehr geehrte Damen und Herren,

kurz vorweg sei gesagt, ich bin seit 1978 Fußball-Schiedsrichter, seit 2000 wohne ich in Hamburg und leite hier, für den Verein Viktoria Harburg pfeifend, Spiele bis zur Bezirksliga.

Ich schreibe diesen Brief, weil ich auch die Medien, von (mindestens) deutschlandweit - BILD - bis regional - sportnord - mit in der Verantwortung sehe für solch einen entsetzlichen Schritt, zu dem sich Herr Rafati anscheinend innerlich gezwungen sah. Selbstverständlich suche ich in Ihnen keinen alleinigen Sündenbock, aber es sei doch mal an einiges erinnert:

Die Bildzeitung vergibt Noten an die Schiedsrichter nach jedem Bundesligaspiel. Sicherlich, sie tut dies auch bei Spielern, aber ich unterstelle der Redaktion leider, dabei sehr ungleichgewichtig zu sein. Nehmen wir als Beispiel einen Spieler, der ein prima Spiel hingelegt hat und von BILD bis dahin glatt die Note 2 bekommen hätte, aber dann, 2 Meter freistehend vor dem leeren Tor, das entscheidende Tor eben nicht erzielt, sondern vorbeischießt. Ob er wohl anstelle der "2" die "3" bekommt? Aber höchstens! Wenn hingegen ansonsten ein unauffällig (das heißt also prima) leitender Schiedsrichter bei eben diesem entscheidenden Tor einen ebenso entscheidenden Fehler begeht und es fälschlicherweise gibt oder, andersherum, zu Unrecht nicht gibt, da gehe ich jede Wette ein, der Mann bekommt eine "5" oder gar eine"6". Und dann - war es vor einem Jahr oder vor zweien? - diese Aktion von BILD, wo jede tatsächliche oder angebliche Fehlentscheidung eines Bundesligaschiedsrichters mit grellroten Tomaten auf deren Augen kommentiert wurde ("Schon wieder ein Tomatenanfall!"). Entsetzlich und menschenfeindlich!
Unsere Bundesliga-Schiedsrichter sind alle ohne Ausnahme starke Persönlichkeiten, sonst wären sie niemals so weit gekommen. Aber auch für diese ist jeder derartige bissige bis beleidigende Kommentar ein Stich wie ins Herz, und jede "5" oder "6" der Bildzeitung für einen Schiedsrichter trifft ihn sehr tief, denn er gab wie bei jedem Spiel nur das Beste. Er fühlt sich wie am mittelalterlichen Pranger.

Und dann - womit die Medien höchstens indirekt zu tun haben - diese unsägliche Wahl der Bundesligaspieler, die jährlich den "schlechtesten Schiedsrichter" wählen. Ist diesen Menschen noch nie zu Bewusstsein gekommen, wie unmenschlich das ist? Das ist ja furchtbar, einen Menschen, einen Sportkameraden, so bloßzustellen! Warum wählen dann nicht die Schiedsrichter den "schlechtesten Spieler der Saison"? Oder meinetwegen auch den unhöflichsten? Oder den, der am meisten schauspielert oder am hässlichsten foult? Vermutlich weil Schiedsrichter generell vielleicht einen höheren Begriff von Gerechtigkeit haben!

Und jetzt zum - genauso wichtigen, oft sogar schöneren - regionalen Fußballsport. Auch auf dieser Ebene wird von sportnord. de dazu aufgerufen, die Schiedsrichter zu benoten. Auch ich habe von "besser als 2" bis "6,0" schon alle Noten bekommen. Es stimmt schon - bei den Spielen mit einer schlechten Note habe ich in der Regel selbst auch das Gefühl gehabt, nicht den besten Tag meiner Laufbahn erwischt zu haben. Aber was soll das? Zwar werden hier nicht die Namen der Schiedsrichter veröffentlicht, aber wer sich die Mühe macht, im DFB-Net nachzuschauen, kriegt den Namen raus. Und dann auch noch oft verbunden mit gemeinen Kommentaren aus der untersten Sohle - können sie sich nicht vorstellen, wie ungeheuer schlimm das für einen Schiedsrichter ist, der immer das beste geben möchte, es aber vielleicht nicht immer schafft? Der als Opfer von pöbelnden, primitiven Spielern (natürlich ist nur ein winziger Bruchteil so, aber die primitiven Pöbler fallen leider am meisten auf) dann vielleicht auch mal nervös wird und falsche Entscheidungen trifft? Den dann auch noch mit miserablen Benotungen in den Hintern zu treten, ist schlimm. Ich würde im Gegenzug so gerne auch mal bestimmte Spieler oder Trainer benoten, die ein Spiel kaputt machen - aber das darf ich ja nicht.

Zum Schluss noch eines: Herr Rafati hat, wie ich las, den Ruf, im Spiel arrogant und zurückhaltend zu wirken. Dann ist er mit mir ein Bruder im Geiste, denn auch mir sagt man das oft nach. Ich bin, und das wird in der Bildzeitung auch von Herrn Rafati gesagt, unheimlich gerne lustig und fröhlich und freundlich, aber als Schiedsrichter, der so oft mies behandelt wird, baut man sich einen Schutzwall auf, der dann oft so wirkt. Meiner war bisher hoch genug, der von Herrn Rafati vielleicht nicht. Ich verneige mich vor ihm in großer Sympathie.

Mit freundlichen Grüßen

Christian Dereser

 Redaktion
Redaktion Artikel